Gerechtigkeit

„Welche Bedeutung hat der Begriff “Gerechtigkeit” aus Ihrer persönlichen Sicht mit Blick auf Ihren Alltag?“ Mit dieser Frage bin ich vor einigen Tagen konfrontiert worden. Eine passende Frage zu den Osterfeiertagen, meine ich.

Doch je mehr ich über diese Frage nachdenke, um so deutlicher wird mir, wie schwer, ja unmöglich es ist, sie zu beantworten.

Zu Hause höre ich oft: „Das ist ungerecht!“, beschweren sich meine Kinder. Alle Geschwister achten streng auf eine Gleichbehandlung. Ungerechtigkeiten, Ungleichbehandlungen in der Familie werden sofort moniert. „Warum muss ich die Spülmaschine ausräumen? Mein Bruder/Schwester hat heute noch nichts im Haushalt getan!“ Doch der/die hat gerade eine schwierige Klassenarbeit vorzubereiten. Warum soll das ungerecht sein, versuche ich zu erklären und ernte nur Unverständnis.
Ich sehe schon, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln – so einfach lässt sich Gerechtigkeit nicht definieren. Denn was bedeutet schon „gleich“? Im Leben gibt es nichts „Gleiches“!

Beruflich muss ich mich nicht weniger häufig mit dem Begriff „Gerechtigkeit“ beschäftigen.

Es wird ja gemeinhin als gerecht empfunden, wenn man nach normgemäßem Verhalten ein positives Erlebnis hat (Belohung) und umgekehrt nach einem nicht normgerechten Verhalten ein negatives (Bestrafung). Dieses Erziehungs-Prinzip kennen wir seit unserer Kindheit.

So habe ich als Staatsanwalt dem Gericht eine „gerechte Strafe“ vorzuschlagen, die gegen jemanden zu verhängen ist, der die Rechtsordnung missachtet hat. Doch was ist eine gerechte Strafe?
Fährt ein bisher Unbestrafter betrunken mit über 1,1 Promille Auto, so wird er – wenn er dabei ertappt wird – mit einer Geldstrafe in Höhe seiner monatlichen Einkünfte belegt.
Erfasst jedoch derselbe betrunkenen Autofahrer mit seinem Fahrzeug ein Kind und verletzt es tödlich, wird gegen ihn mindestens eine einjährige Freiheitsstrafe ohne Bewährung verhängt (So die übliche Strafzumessungspraxis im Landgerichtsbezirk Trier).

„Das ist ungerecht!“, sagen die Eltern des Opfers, “Er hat unser einziges Kind getötet! Nur wegen seines rücksichtslosen Egoismus. Er weiß doch, dass er nicht betrunken Auto fahren darf. Er muss viel härter bestraft werden, denn er ist nicht besser als ein Mörder! Das Leben unseres Kindes und auch unserer Leben hat er zerstört! Er darf weiterleben, wir können so nicht weiter leben. Das ist ungerecht!“

„Das ist ungerecht, dass ich so hart bestraft werde und jetzt auch noch ins Gefängnis gehen muss“, sagt der Angeklagte: „Mich belastet der Tod des Kindes doch ohnehin schon sehr. Keine Nacht kann ich mehr schlafen. Normalerweise trinke ich doch nie. Bisher habe ich mir auch noch nie etwas zu Schulden kommen lassen. Ein einmaliges Versagen: Ich hatte damals Kummer, weil mich meine Frau verlassen hat. Also habe ich einmal in meinem Leben etwas getrunken und nicht aufgepasst. Und da läuft mir doch dieses Kind vors Auto! Es war doch nur ein unglücklicher Zufall, eine Verkettung ungünstiger Umstände! Mein Nachbar, der fährt regelmäßig betrunken Auto. Er ist aber noch nie erwischt und bestraft worden, weil er alle Schleichwege in Trier kennt. Das ist ungerecht!“

Haben irgendwie nicht beide Recht? Wer beurteilt, was Gerechtigkeit ist. Ist Gerechtigkeit eine Art Vexierbild, das je nach Betrachtungswinkel völlig anders aussieht?

„Es ist ungerecht, dass ich von dem Geld, das ich verdiene und mir hart erarbeitet habe, auch noch so viel Steuern zahlen muss!“ <–> „Es ist ungerecht, dass diejenigen, die das Glück haben, eine Arbeitsstelle zu besitzen und viel Geld verdienen, nicht mehr Steuern zahlen, damit Ärmeren geholfen werden kann!“

Zweifelsohne hängt die Beurteilung dessen, was gerecht ist, auch von der jeweiligen Wertordnung ab, in der wir leben: Was im islamischen Kulturkreis als gerecht angesehen wird, kann für die christliche Welt ein Beispiel besonderer Ungerechtigkeit sein, wie beispielsweise die Beurteilung der Stellung der Frau in der Gesellschaft.

Gibt es also überhaupt nachvollziehbare Maßstäbe, an denen man Gerechtigkeit messen kann?
Ich fühle mich ungerecht behandelt, weil ich nicht so viel Geld verdiene wie ein Bekannter, der kaum etwas arbeitet, aber reich geerbt hat. Ich vergesse dabei, dass ich das Glück habe, zu einer verschwindenden Minderheit der Menschheit zu gehören, die im Wohlstand leben darf. Mir mangelt es an Nichts – den Meisten auf der Welt an Allem. Und ich interpretiere dies nicht als Ungerechtigkeit, sondern als Selbstverständlichkeit.

Gerechtigkeit hat also irgendetwas mit subjektiver Beurteilung der Dinge zu tun, mit verschiedenen Maßstäben, die man unterschiedlich anlegen kann. Doch muss „Gerechtigkeit“ nicht irgendetwas „Objektives“, „Absolutes“ sein?
Je mehr ich mich mit dem Thema beschäftige, um so deutlicher wird mir, dass ich es nicht verstehe.

Betrachten wir unsere Welt: Ist sie nicht ein Abbild schreiender Ungerechtigkeiten?
Dem größten Massenmörder der Weltgeschichte, Adolf Hitler, gelang es Macht über Menschen zu gewinnen, ungehindert überlebte er alle gegen ihn gerichteten Attentate, wohingegen er 6 Millionen Juden ermorden konnte; 50 Millionen Menschen ließen in dem von ihm angezettelten Krieg ihr Leben.

Die Weltgeschichte ist von solchen Ungerechtigkeiten geprägt. Dies setzt sich bis heute fort: Wir, die wir in den Industrieländern leben, haben den Klimawandel verursacht. Die Ärmsten in den Entwicklungsländern werden jedoch am stärksten darunter zu leiden haben, wie dem jüngsten Uno-Klimabericht zu entnehmen ist.

Die Relativität des Begriffes Gerechtigkeit beschreibt meines Erachtens das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg am Besten (Evangelium des Matthäus, 20,1-16), ein vielschichtiges Bild.

Mein Fazit:

Gerechtigkeit ist ein Gut, das wir anstreben, aber nicht erreichen können, weil wir es nicht begreifen. Wir verstehen lediglich die absolute Gerechtigkeit, die darin besteht, dass jeder eines Tages sterben und vor seinen Schöpfer treten wird.
Bis dahin bleibt nur, uns auf eine formelle, irdische Gerechtigkeit zu beschränken. Wir haben uns eine Rechtsordnung geschaffen, um unsere menschliches Zusammenleben zu regeln. Wir streben an, dass sich alle an diese Rechtsordnung halten und vor der Rechtsordnung, dem Gesetz, gleich behandelt werden. Doch unvollkommen wie wir sind, können wir dieses Ziel nur sehr unbefriedigend verwirklichen.

2 Gedanken zu „Gerechtigkeit

  1. Gerechtigkeit? Glücksache?

    Ein allgemeinverbindlicher Wissenskanon, Erfahrungswerte und Wertvorstellungen bilden den Ausgangspunkt für eine Entscheidung
    was Gerecht und Ungerecht ist.

    Die Gesetzgebung ist der formale Rahmen in dem diese Verbindlichkeiten festgeschrieben sind. Doch die Rechtsordnung ist hier das unvollkommene
    Instrument mit dem Gerechtigkeit geübt und Ungerecht geandet werden soll. Es ist ein Hilfsmittel welches in den Momenten, wo allgemeine
    Verbindlichkeiten missachtet werden, angewendet wird.

    Verbindlichkeiten werden immer durch den persönlichen Hintergrund und Erfahrungen gelenkt und bewertet. Ist das nun Rechtsempfinden oder Ethik?
    Kann das Opfer nicht im nächsten Moment zum Täter werden? Unterliegt meine persönliche Ethik und mein Rechtsempfinden nicht der Unvollkommenheit
    meiner menschlichen Natur? Ist sie nicht auch situationsbedingt und damit dynamisch/unstet?

    Hier bildet die Justiz ein System innerhalb dessen dies Bewertet wird. Diese Bewertungsmaßstäbe sind festgeschrieben, können jedoch in Ihrer
    konsequenten Anwendung Lücken aufweisen. Paragraphen und Vorschriften entsprechen in Ihrer Anwendung eben nicht immer dessen was die Ethik
    und individuelle Sichtweisen vorsehen würden. Angewendet von Menschen kann es nur unvollkommen bleiben.
    Auch bedarf es einer permanenten Fortschreibung. Gesellschaftliche und Soziale Veränderungen lassen Gesetze nicht statisch sein.

    Die vielzahl der Begriffe, denen das Attribut Gerechtigkeit anhängt (soziale Gerechtigkeit, ökologogische Gerechtigkeit, wirtschafliche Gerechtigkeit, etc.)
    zeigt die Vielzahl der Gebiete auf denen sie eingefordert wird. Die Ansichten der Ausformulierungen differieren hier zwischen Kirchen, Staat, Gesellschaft
    und Humanisten.

  2. Dieses Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg hat mir während meiner Schulzeit einiges Kopfzerbrechen bereitet. Aber auch das Gleichnis vom verlorenen Sohn(Lk 15,11-31). Hier wird der reumütige Sünder und nicht derjenige,der sich all die Jahre an die Gebote gehalten hat, belohnt.

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