Gaulandsche Geschichts Glättung

Nein, Herr Gauland: Luther, Bach, Lessing, Goethe, Schiller, Kleist, Schubert, Heine hätten bestimmt KEINE AfD gewählt!

TOLL!

https://www.youtube.com/watch?v=hbPY47oqboc

In 17:50 Minuten Geschichtsunterricht mit »Opi Gauland« erfahren wir Deutschen doch endlich mal, weshalb wir so richtig stolz ein können auf uns. Denn: »Wir hatten den Stauferkaiser Friedrich II.«; »wir hatten die Goethezeit« ( dass SIE, Herr Gauland, in diesem Zusammenhang Heinrich Heine, Lessing und gar Luther bemühen, das haben diese Herren wahrlich nicht verdient, aber sie können sich nicht dagegen wehren). Was verbindet diese nach Gauland’scher Geschichtstheorie: »Die Dominanz deutscher Kultur und deutscher Sprache in Europa.«

Nun ist gegen diese Tatsache, nüchtern betrachtet, überhaupt nichts einzuwenden, doch, weshalb ist es Gauland – unter dem Gejohle der Anwesenden – wichtig, seine »tour d’horizon de littérature allemande« vor dem Kyffhäusertreffen am 2.9.2017 vorzutragen? »Weil wir eine Integrationsbeauftragte (Staatsministerin Aydan Üzoguz, SPD, Anm. Verf.) haben, die das alles für nichts erachtet, die (…) offensichtlich geistig vor einem Nichts steht!« Taramtamtam! DER hat Gauland es aber gegeben! Na ja, er wollte sie ja schon vor einigen Wochen … »entsorgen« – wie Müll! Da ist das geistige Nirwana der Ministerin, das er glaubt, bei ihr entdeckt zu haben, ja geradezu harmlos dagegen! Und was rufen die begeisterten Herren im Saal? »ABSCHIEBEN, ABSCHIEBEN! Eine deutsche Bundesministerin… ABSCHIEBEN! »ENTSORGEN!« Ein Vorgeschmack auf die Degenerierung der Debattenkultur im nächsten Bundestag?

Und dann, der Skandal! »Auf (den) 550 Seiten (der Wahlprogramme aller Parteien außer dem der AfD) kommt das Wort >Deutsche< nur fünfmal vor!« Das ist die… »Apocalypse Now!« des Jahres 2017! Und zwar nicht als Antikriegsfilm, sondern als »Gegen das Anti-Deutschtum in unserm Lande!« Denn anstelle an die Deutschen wenden sich doch die Vaterlandsverräter von »Union, SPD, GRÜNEN und LINKE an die ‘Menschen’, die mehr als vierhundert Mal angesprochen werden!« Skandalös! »Nur, liebe Freunde, unser Programm weicht davon ab. Da steht 15x bei uns ‘das deutsche Volk’, und das ist der Unterschied von AfD und Allparteien.«

Aber es wird im Laufe der »Geschichtsstunde à la Gauland in 17 Minuten« immer besser: »Der Sozialdemokrat in Wehrmachtsuniform Helmut Schmidt gehört zu uns! (…) Wenn eine wild gewordene CDU Verteidigungsministerin Helmut Schmidt (entsorgen will), dann stehen wir auf. Er ist ein patriotischer Deutscher gewesen!« Taramtamtam! Jetzt wissen die Sozialdemokraten endlich mal, wo Helmut Schmidt seine eigentliche Heimat hatte.
Allerdings pflichte ich an dieser Stelle als Historikerin mal dem Kommentator der FAZ, Lorenz Hemicker, bei, der diese Maßnahme der Verteidigungsministerin, Dr. Ursula von der Leynen – die ich ansonsten sehr schätze – folgendermaßen beschrieb: “Aus einer Suche darf keine Hetzjagd werden”, sprich, Hakenkreuze gehören nicht in deutsche Kasernen, aber das Bild des Ex-Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Schmidt, von 1940, das ihn als jungen Wehrmachtsoffizier der Luftwaffe zeigt, darf dies meiner Meinung nach sehr wohl!

Den geschichtshistorischen Kick à la Gauland erleben wir aber nur, wenn wir bis 13:10 Minuten der Rede ausgehalten haben. Denn dann kommt er zum Wesentlichen: »Wer Geschichte säubert, der zerstört unsere Identität!« Soweit, so gut! Aber, was gehört nach Gauland NICHT mehr zu unserer deutschen Identität dazu? »Man muss uns diese 12 Jahre (1933-1945, die Zeit des Nationalsozialismus, Anm. Verf.) jetzt nicht mehr vorhalten. Sie betreffen unsere Identität heute nicht mehr!« Frenetischer Jubel bei den Anwesenden!
Und: »Wenn die Franzosen zu Recht stolz auf ihren Kaiser sind und die Briten auf Nelson und Churchill, haben wir das Recht, stolz zu sein auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen!« Da ist die Menge in Nordthüringen nicht mehr zu halten! Und Gauland erträgt stoisch so viel Beifall!

Ich will mich nicht aufhalten mit dem Tatbestand einer für mich fast unerträglichen Geschichtsklitterung, denn »fake news« gehören ja bekanntlich zum rhetorischen Stilmittel der AfD, ich will antworten mit Johannes Scherr (1817 – 1886), einem schweizerischen Schriftsteller und Literaturhistoriker, einem Politiker, der als demokratischer Abgeordneter in die württembergische Kammer gewählt wurde und 1849 in die Schweiz fliehen musste und dessen – prophetische anmutenden Worte – heute leider wieder Gültigkeit haben: »Man muss die Vergangenheit kennen, wenigsten einigermaßen ahnen, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu kennen. Ohne Kenntnis der Geschichte ist dem Menschen alles, was um ihn vorgeht, schlechterdings unbegreiflich, geradezu ein Rätsel. Daher die stupide Auffassung der Erscheinungen unserer Zeit von Seiten der kenntnislosen und urteilslosen Menge.«