Was ich von Oma lernte

Auf den Fotos bin ich mit meiner Oma zu sehen: Links, als ich klein war, rechts, kurz vor ihrem Tode.

Ich habe meine Oma – Jahrgang 1900 – geliebt. Sie war eine wundervolle, selbstbewusste, intelligente, schöne und vor allem außergewöhnliche Frau.

Außergewöhnlich für die damalige Zeit war allein schon der Umstand, dass sie dreimal verheiratet war, davon zweimal mit demselben Mann.

Sie lebte zuletzt in Wiesbaden. Ich habe sie als junger Student in Mainz dort oft besucht, und wir haben viel miteinander geredet.

In ihrem Leben – so erzählte sie immer wieder – habe sie einen ganz großen Fehler gemacht: Sie habe 1932 diesen Hitler gewählt.

Damals lebte Oma mit ihren vier Kindern (drei aus erster Ehe und ein Nachzögling aus zweiter Ehe – meine Mutter) in der Reichshauptstadt Berlin. Nein, sie gehörte nicht zu den vielen Deutschen, die nach dem Krieg schamhaft ihre damaligen Wahlentscheidungen verleugneten. Sie stand zu ihrer fatalen Fehlentscheidung.

»Du musst Dir vorstellen, wie das damals aussah in Berlin!«, schilderte sie die damaligen Zustände. »Immer wieder Straßenkämpfe! Vor meinen Augen haben sie einen Mann erschossen! Den Anblick konnte ich niemals vergessen!«. Arbeitslosigkeit, wirtschaftlicher Niedergang, ein zerstrittenes Parlament. »Ich habe mir gedacht, da muss jemand her, der wieder Recht und Ordnung in das Land bringt!« ».. und die gebeutelten Deutschen wieder groß macht!« Jemand, der vorgeblich einfache Lösungen herausbrüllte.

Ja, hätte sie doch niemals auf diese angeblichen Heilsbringer und ihre dummen Parolen gehört!

Weil viele so dachten wie meine Oma seinerzeit, kam ein selbstverliebter, blutrünstiger Massenmörder an die Macht, der unfassbares Leid über Abermillionen von Menschen auf der ganzen Welt brachte.

Oma sollte ihren Irrtum auch persönlich teuer bezahlen, verlor sie doch ihren einzigen Sohn, der als Soldat auf der Flucht aus Russland qualvoll auf dem Flüchtlingsschiff »Goya« ertrank, das von einem russischen Torpedo getroffen worden war.

Im Vergleich zu anderen ist sie indes immer noch glimpflich davonkommen. Sie und ihre drei Töchter überlebten. Die jüngste wurde medizinisch-technische Assistentin und lernte einen jungen Arzt kennen. 1956 kam das erste Kind von beiden zur Welt.

Oma wurde nach dem Krieg wurde eine überzeugte Demokratin.

Heute ist sie schon lange tot und ich muss erleben, wie überall auf der Welt – auch wieder bei uns – rechte, nationalistische und demokratiefeindliche Parteien ihre Parolen verbreiten und auch gewählt werden.

»Was sind wohl die Gründe?«, frage ich mich ein wenig hilflos.

Wenn ich an meine Oma denke, meine ich, dass es heute sicher viele gibt, die sich wieder eine starke Führung wünschen. Klare Orientierung. Das vermisst man derzeit.

Doch bei einer Demokratie ist das naturgemäß nicht so einfach mit der »starken Hand«. Völlig zu Recht. Zu viel Macht auf wenige oder gar einen zu konzentrieren, ist brandgefährlich wie Gegenwart und Vergangenheit uns es schmerzhaft lehren und gelehrt haben. Führung kann demzufolge nur bedeuten, dass wir uns endlich wieder dazu durchringen, in den Parlamenten mehr Disziplin zu üben, auf kleinliche Streitigkeiten über Petitessen verzichten und uns auf die wesentlichen Streitfragen konzentrieren. Die Prioritätensetzung muss wieder stimmen!

Demokratie bedeutet aber auch ein wenig Zumutung für uns alle:

Geduld, um Entscheidungen hinzunehmen, die demokratische Gremien getroffen haben, die man indes überhaupt nicht nachvollziehen und schon gar nicht gutheißen kann. Mir geht es selbst so: Über vieles, was so auf Bundes- Landes oder kommunaler Ebene beschlossen wurde, kann ich mich fürchterlich echauffieren. Aber Mehrheitsentscheidungen sind nun einmal grundsätzlich zu akzeptieren. Jedenfalls zunächst, denn selbstverständlich können in einer Demokratie bei geänderten Mehrheitsverhältnissen Beschlüsse auch wieder geändert werden.

Mitarbeit: Demokratie wird nicht von wenigen gestaltet, sondern von allen Bürgerinnen und Bürgern unseres Staates. Sie lebt existentiell von der aktiven Mitwirkung möglichst vieler. Doch was geschieht? Den Parteien laufen die Mitglieder davon. Ich kann es grundsätzlich verstehen: Mitarbeit in Parteien – je nachdem wie engagiert man ist – ist nicht nur anstrengend, sondern belastet gelegentlich auch die Nerven. Es hilft aber nichts: Bürgerinnen und Bürger, die aktiv – ehren- oder hauptamtlich – Politik mitgestalten, sind überlebenswichtig für unseren Staat. Also: Mitmachen statt Maulen.

Verzicht üben: Klimakrise, Krieg, Katastrophen: Überdeutlich wird uns jetzt bewusst, dass wir die in dem 1992 veröffentlichten gleichnamigen Buch beschriebenen »Grenzen des Wachstums« erreicht haben. Weiter so, geht nicht mehr! Ich denke, viele von uns werden sich daran gewöhnen müssen, dass der Wohlstand nicht mehr grenzenlos wachsen wird. Gleichzeitig stehen jedoch diejenigen im Fokus unserer Wahrnehmungen, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht von den Krisen betroffen sind und immer reicher werden. Ungerechtigkeit zu ertragen, fällt eben schwer. Politik – betreibt man sie denn richtig – kann aber selbstverständlich dazu beitragen, Krisenfolgen abzumildern und Ungerechtigkeiten zu minimieren! Für völlig verfehlt halte ich beispielsweise ein mögliches politisches Konzept: Wirtschaft durch eine Unzahl von Vorschriften zu knebeln und einzuschnüren. In unserer von Ludwig Erhard geschaffenen sozialen Marktwirtschaft muss man unserer Wirtschaft auch genügend Entfaltungsmöglichkeiten geben, natürlich in einem gesetzlich vorgegebenen äußeren Rahmen. Entbürokratisierung, wo immer es nur geht. Ich bin gewiss: Dann läuft es wieder! Die Vergangenheit hat es ja gezeigt.

Und dann gibt es da noch ein besonders schwieriges Thema. Es ist ein Urinstinkt des Menschen, die eigene Gruppe, in der man lebt, zu pflegen und zu schützen. Es wundert also nicht, dass die »Migration« derzeit überall in Europa, auch bei uns, im Fokus der politischen Diskussion steht. Weitgehende Einigkeit besteht – glücklicherweise – darin, dass all diejenigen, die hierherkommen, um zu arbeiten sowie unser Land mit – und weiterzuentwickeln herzlich willkommen sind. Wir wissen, dass beispielsweise in Deutschland ganze Branchen zusammenbrechen würden, wenn wir uns nicht über Mitarbeitende aus der ganzen Welt freuen dürften. Aber es gibt auch diejenigen, die unverlangt zu uns kommen: Manchmal durchaus wenig ehrenhaften Motiven, meistens aber aus purer Not und Verzweiflung, weil das Leben in ihren Heimatländern aus den verschiedensten Gründen unerträglich ist. Doch wie mit diesen Leuten umgehen? Wir können gewiss nicht die ganze Welt bei uns aufnehmen, weil dann auch bei uns die Gesellschaft zusammenbrechen würde. Doch einfache Lösungen gibt es nicht. Nach unserem Grundgesetz ist die Würde eines jeden Menschen unantastbar. Das Thema ist äußerst komplex und schwierig. Man muss jedenfalls die Sorge vieler Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen und an der Problematik arbeiten. Fest steht, dass alle, die behaupten, angeblich einfache Lösungen zu haben, dreiste Lügen auftischen.

Wir stehen derzeit zweifelsohne vor gewaltigen Problemen und Herausforderungen. Doch – wie die Geschichte gezeigt hat – wir werden sie nicht lösen, indem wir unseren demokratischen Rechtsstaat anzweifeln und ihn beschädigen, sondern in diesem Fall nur neue, noch gewaltigere Probleme schaffen.

Ich mache mir deshalb derzeit große, sehr große Sorgen über antidemokratische Bewegungen überall auf der Welt, auch bei uns, die keine Lösungen anbieten, sondern nur Verderben.

Mir klingen die Worte meiner Oma, die vor über 90 Jahren Ähnliches erlebt hat, noch im Ohr. Doch gerade Jüngere haben diese Worte niemals hören können, weshalb es manchem leichtfällt, die Lehren der Geschichte einfach zu ignorieren.

Lösen können wir unsere Probleme nur, wenn sich möglichst viele sich aus der Rolle des Nörglers (»Was machen die `da oben´ nur alles falsch!«) herausbegeben und sich aktiv in unserer Gesellschaft beteiligen.

Wenn jemand – so wie ich – mit getroffenen Entscheidungen von Gremien, die demokratisch gewählt sind, nicht einverstanden ist (Beispiel: Heizungsgesetz), oder glauben – ebenfalls wie ich, dass derzeit vielfach völlig falsche Prioritäten in der Politik gesetzt werden (Beispiel: Viel Aufwand um Cannabis-Gesetz, anstatt Wirtschaft zu stärken), sollte keine Protestwahl vornehmen, sondern diejenigen wählen oder – besser – sich dort engagieren, die andere, Lösungsalternativen anbieten.